Joby Aviation: Senkrechtstart für die Aktie?
Blickt man auf den Jahreschart, konnte die Aktie des Luftfahrzeugherstellers Joby Aviation zuletzt fast einen Senkrechtstart vollziehen. Das passt hervorragend ins Bild, denn das Unternehmen entwickelt ein elektrisch angetriebenes, senkrecht startendes und landendes Luftfahrzeug, mit dem ein Lufttaxidienst betrieben werden soll
Mehr als nur ein Lufttaxi-Start-up
Auf den ersten Blick könnte Joby Aviation wie ein weiteres überlebendes Relikt der SPAC-Ära erscheinen: ein Elektroflugzeug-Hersteller, der mit hohen Ausgaben und niedrigen Umsätzen kämpft. Doch diese oberflächliche Einschätzung verkennt das tiefere strategische Potenzial des Unternehmens. Joby entwickelt nicht einfach elektrische Fluggeräte, sondern verfolgt den Anspruch, die Zukunft der amerikanischen Luftfahrtindustrie neu zu gestalten.
Im Kontext geopolitischer Umwälzungen, der Rückverlagerung von Produktionsstandorten, der Dekarbonisierung und der Reindustrialisierung der USA positioniert sich Joby als Plattformunternehmen mit industrieller Substanz. Die eigentliche Chance liegt nicht in kurzfristigen Schlagzeilen über urbane Mobilität, sondern in der einzigartigen Positionierung als Hersteller, Pionier der FAA-Zertifizierung und künftiger Anbieter für zivile wie militärische Anwendungen.
Vom Prototyp zum Produkt: Ein neuer Abschnitt beginnt
Der jüngste Kurssprung von rund 50 Prozent im Juli verdeutlicht, dass Joby sich nun in einer neuen Phase befindet. Mit der Erweiterung der Produktionsstätte in Marina, Kalifornien, verdoppelt sich die jährliche Kapazität auf 24 Flugzeuge. Gleichzeitig laufen in Dayton, Ohio, die Vorbereitungen für eine Fertigungslinie mit einem Potenzial von bis zu 500 Flugzeugen pro Jahr.
Diese Fortschritte unterstreichen, dass Joby nicht länger im Experimentiermodus steckt – die industrielle Skalierung hat begonnen. Auch international nimmt die Kommerzialisierung Fahrt auf: Der kommerzielle Betrieb in Dubai soll Anfang 2026 starten. Dort wird bereits an einer eigenen Vertiport-Infrastruktur am internationalen Flughafen gearbeitet, begleitet von erfolgreich durchgeführten Testflügen mit Piloten an Bord.
Ein weiterer Meilenstein ist die Vereinbarung mit der saudi-arabischen Abdul Latif Jameel Gruppe. Diese plant Investitionen von bis zu einer Milliarde US-Dollar in den Kauf von Fluggeräten, Betriebsservices und Infrastruktur. Diese Partnerschaft stärkt das Vertrauen institutioneller Investoren in Jobys globale Expansionsstrategie.
Zentral für den nächsten großen Schritt ist die Zertifizierung durch die US-Luftfahrtbehörde FAA. Der Übergang von Stufe 4 (Testphase) zu Stufe 5 (Nachweis & Verifikation) sowie der erste Flug eines konformen Serienmodells könnten den Wechsel vom spekulativen Tech-Startup zur ernstzunehmenden Luftfahrtplattform markieren.
Der eVTOL-Markt ist keine Fantasie mehr
Der Markt für elektrische Senkrechtstarter (eVTOL) ist längst nicht mehr Zukunftsmusik. Schon heute hat er ein Volumen von rund 1,35 Milliarden Dollar und könnte bis 2030 auf fast 29 Milliarden anwachsen – mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von knapp 55 Prozent. Treiber dieser Entwicklung sind Fortschritte in der Batterietechnologie, regulatorische Unterstützung, die Verdichtung urbaner Räume sowie das wachsende Bedürfnis nach emissionsfreier Mobilität.
Während andere Unternehmen noch in der Prototypenphase verharren, hat Joby bereits fünf voll funktionsfähige Fluggeräte gebaut, davon einige für das US-Verteidigungsministerium. Die Produktion erster FAA-konformer Flugzeuge läuft, das Unternehmen verfügte zuletzt über 813 Millionen Dollar in bar, und mit Toyota als strategischem Partner ist die industrielle Skalierung auf solidem Fundament gebaut.
Neubewertung im Gange – mit Blick auf das operative Tempo
Die Kursentwicklung von Joby sollte nicht isoliert betrachtet werden, sondern im Zusammenhang mit der operativen Geschwindigkeit. Das erste Quartal 2025 markierte den Wendepunkt: Joby lieferte erste Fluggeräte an das US-Verteidigungsministerium, startete die Produktion konformer Maschinen und führte bemannte Testflüge durch.
Q2 2025 wird entscheidend für die Glaubwürdigkeit dieser Transformation sein. Investoren werden genau verfolgen, ob Joby seine Prototypen erfolgreich in skalierbare Produktion überführt, regulatorische Hürden überwindet und kommerzielle Einsatzbereitschaft signalisiert. Dabei zählen nicht Umsatz oder Gewinn je Aktie, sondern die Einhaltung des Fahrplans zur FAA-Zertifizierung.
Zudem werden Aussagen zur Produktionsrate in Marina und zur Lieferkette in Ohio Aufschluss darüber geben, wann ein Übergang von Einzelanfertigungen zur Serienfertigung möglich ist. Der nächste Prüfstein wird der Fortschritt in der FAA-Zertifizierung sein – konkret der Sprung in Stufe 5 und die ersten offiziellen Testflüge mit einem vollständig konformen Serienmodell.
Bewertung neu gedacht: Meilensteine statt klassischer Kennzahlen
Joby lässt sich nicht mit traditionellen Bewertungsmodellen wie Kurs-Gewinn-Verhältnis oder Discounted Cash Flow einordnen. Vielmehr ähnelt das Unternehmen in seiner aktuellen Phase einem Biotech-Startup: Der Wert bemisst sich daran, wie erfolgreich und schnell regulatorische und operative Meilensteine erreicht werden.
Zu diesen Etappen zählen die vollständige FAA-Zertifizierung (inkl. Integration in Teil 23 und 135), der erste kommerzielle Start – etwa in Dubai oder durch einen US-Vertrag –, die hochskalierte Produktion, der Aufbau von Vertiports sowie das Erreichen wiederkehrender Umsätze aus dem operativen Geschäft.
Je schneller Joby diese Schritte glaubwürdig erreicht, desto mehr reduziert sich das wahrgenommene Risiko, was eine sukzessive Neubewertung zur Folge haben dürfte. Mit jeder Zertifizierungsphase, jedem abgeschlossenen Vertrag und jedem Auslieferungsschritt wird aus einem spekulativen Versprechen ein strategisch relevantes Industrieunternehmen.
Herausforderungen bleiben: Hoher Kapitaleinsatz und regulatorische Unsicherheiten
Trotz aller Fortschritte ist Joby nicht frei von Risiken. Die Zertifizierungsphasen sind komplex, zeitaufwendig und teilweise noch unvollständig – insbesondere in Stufe 4 und dem Beginn von Stufe 5. Verzögerungen könnten nicht nur das Investorenvertrauen belasten, sondern auch den Kapitalbedarf verlängern.
Auch die vertikale Integration, die langfristig für Effizienz sorgt, führt kurzfristig zu starrer Kostenstruktur. Falls sich Marktbedingungen verschlechtern, Zinssätze steigen oder politische Unterstützung – etwa in der Golfregion – nachlässt, könnte das Modell unter Druck geraten.
Trotz eines Verlusts von 163 Millionen Dollar im ersten Quartal 2025 verfügt Joby über ausreichend Liquidität. Die Kapitalintensität ist hoch, aber kurzfristig nicht bedrohlich. Das eigentliche Risiko liegt in operativen Verzögerungen – nicht im Geschäftsmodell selbst.
Ein strategischer Technologiewert – kein Hype
Joby ist weit mehr als eine Wette auf urbane Lufttaxis. Das Unternehmen baut ein vollständig neues Mobilitätssegment an der Schnittstelle von Autonomie, Luftfahrt und Infrastruktur. Mit Toyota im Rücken, laufender FAA-Zertifizierung, wachsender Produktion und ersten internationalen Aufträgen liegt der Fokus nicht mehr auf Träumen, sondern auf greifbarer Umsetzung.
Der Aktienkurs spiegelt zunehmend nicht mehr Fantasie, sondern Fortschritt wider – und das macht Joby zu einem der spannendsten Unternehmen der kommenden Luftfahrtära.